Viele Geschichten und Mutmaßungen ranken sich um den legendären Turmbau von Babel und das Gerücht, ich wäre erzürnt
über die Anmaßung gewesen, dass die Babylonier einen Turm bauen wollten, der bis in den Himmel reichte. Das ist
natürlich blanker Unsinn, denn wie heute jeder Physiker und Architekt bestätigen wird, ist es gar nicht möglich,
einen so hohen Turm zu bauen.
Tatsache ist, dass es einen Turmbau zu Babel gab. Ebenfalls Fakt ist, dass dieser Turm extrem hoch war. Doch die
Beweggründe waren andere, als oftmals geschildert. So war es nicht das ursprüngliche ziel, den Himmel zu erreichen.
Der Turmbau hatte überhaupt keine religiösen Beweggründe, sondern stammt aus der Idee einiger Beamter, die schon
damals für ihren Hang zur Bürokratie bekannt waren.
Ursprünglich bestand der Turm eigentlich nur aus einem Erdgeschoss. In dessen Zentrum befand sich ein Tempel und eine
Art Ratshalle. Um diese beiden Gebäude wurden dicht an dicht andere Gebäude herumgebaut, wie beispielsweise
Steuerbüros, Priester- und Ratsgebäude. Damals waren Religion und Politik fatalerweise noch sehr eng verknüpft.
Im Laufe der Zeit stiegen die Steuern immer höher und es wurden immer neue Gesetze und Verordnungen geschaffen. Das
Volk wurde aufsässig und zürnte der Verwaltung deshalb. Da beschlossen Priester und Räte, Beschwerdestellen
einzuführen, in der jeder freie Bürger Babylons seine Einwände vortragen könnte. Diese Einwände sollten später
dann im Rat besprochen werden. Doch für diese Beschwerdestellen war kein Platz mehr in diesem Tempel- und
Verwaltungsbezirk. Also beschlossen die Weisen dieser Zeit, die existenten Gebäude aufzustocken und zu verbinden. Damit
war die Grundidee des Turmbaus geboren. Doch schnell bemerkten die Bürokraten, dass diese Beschwerdestellen nicht
ausreichten, weil immer mehr Beschwerden zu immer mehr Fachbereichen eingingen. Also bekam jeder Fachbereich eine eigene
Etage und der Turm wurde weiter aufgestockt. Schließlich gab es eine Etage für religiöse Belange, eine für soziale,
eine für Steuerbeschwerden usw.
Doch jetzt fanden die Bürger sich nicht mehr zurecht und wussten nicht, wo sie sich über welches Thema beschweren
sollten. Also ließen die Bürokraten den Turm weiter aufstocken und eine Etage für Informationsbüros wurde gebaut. Da
mittlerweile aber die Beschwerden so zahlreich geworden waren, dass sie nicht mehr alle sofort bearbeitet werden
konnten, musste ein Beschwerdearchiv her, wofür der Turm ein weiteres Mal aufgestockt wurde. Und so setzte sich das
immer weiter fort. Es folgten Etagen für die Verwaltung des Archivs, später wurden Formulare eingeführt, wofür es
wieder eine eigene Etage gab, dann folgte die Verwaltung der Formularabteilung, die Verwaltung der Verwaltungen und so
wuchs und wuchs dieser Turm und wurde immer höher. Dieser Turm war nicht nur der erste Wolkenkratzer der Welt, mit ihm
wurde auch der Grundstein für den modernen Bürokratismus gelegt, wie wir ihn noch heute kennen.
Als der Turm eine gewisse Höhe erreicht hatte, meldete ich mich zu Wort und erklärte den Menschen, dass jetzt aber
langsam Schluss sein müsste und dass auf die Spitze des Turms ein großes Warnlicht installiert werden müsste, damit
es nicht noch zu Problemen mit dem himmlischen Flugverkehr käme. Man sagte mir das auch zu und ich ließ die Babylonier
gewähren.
Als ich jedoch eines Nachts auf meiner brandneuen Reisewolke unterwegs war, knallte es auf einmal heftig und ich wurde
mächtig durchgeschüttelt. Diese Bürokraten hatten den Turm tatsächlich noch höher gebaut und die Warnlampe hatten
sie auch nicht installiert. Das Ergebnis davon war, dass ich mit voller Wucht gegen den Turm gerauscht bin und die
oberen Stockwerke in Schutt und Asche lagen. Das wohl Schlimmste war allerdings, dass meine neue Reisewolke eine riesige
Beule hatte. Das hat mich maßlos erzürnt, denn damals musste ich meine Wolken noch selbst reparieren.
Also ließ ich die Verantwortlichen antreten und stauchte sie erstmal zusammen. Doch anstatt demütig ihre Schuld
einzugestehen, machten sie mich dafür verantwortlich, dass ihr Turm beschädigt sei. Sie sprachen von leichtsinniger
Flugweise, Fahrlässigkeit und mangelndem Verantwortungsgefühl. Schließlich forderten sie Schadenersatz und bekamen
sich darüber in die Haare, wem ich wieviel Schulden würde und wem ich was zuerst ersetzen müsste. Dabei schaukelten
sie sich gegenseitig so hoch, dass mir irgendwann der Geduldsfaden riss, weil sich bei mir Kopfschmerzen bemerkbar
machten, was mir übrigens damals das erste Mal passierte. Und da sie mit ihrer Schnatterei und ihrer Schreierei nicht
aufhörten, gab ich ihnen kurzerhand verschiedene Sprachen. Es dauerte nicht lange, da schwiegen sie. Ich aber war
zufrieden, setzte mich auf meine Wolke und flog vorsichtig zurück. Als ich einige Jahrzehnte später mal wieder vorbei
schaute, war der Turm verlassen. Niemand arbeitete mehr in ihm, die Büros waren leer und kein Mensch war mehr zu sehen.
Und da das Ding immer noch eine Gefahr für den Flugverkehr war, riss ich es ab.
Aber gelernt haben die Bürokraten bis heute nicht daraus. Denn auch heute sieht man es noch immer: Je größer die
Behörde oder Verwaltung, desto höher die Gebäude.
Das war also die Geschichte vom Turmbau zu Babel, wie sie sich wirklich ereignet hat.